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Kalorienzählen ja oder nein?

Alle lieben Mathe – oder? Anders kann ich es mir nicht erklären, dass alle so wild drauf sind, Kalorien, Punkte, Fettaugen, Kohlenhydrate, oder Makros zu zählen, was immer das alles auch ist. Alles, was am Gaumenzäpfchen vorbei will muss sich erstmal in ner App oder ner Liste registrieren lassen. Manchmal sogar Wasser. 

Kann Futterbuchhaltung einem umferwenden 5-Gänge-Menü eventuell eine ganz neue Dimension des sinnlichen Erlebens hinzufügen, die bei mir bloß nicht so ganz ankommt? Ich fürchte fast, das kann sie. Aber ob das wirklich zum Genuss beiträgt …

„Iss weniger, beweg Dich mehr“. Den Satz hatten wir im letzten Artikel. Jetzt formulieren wir den mal ein kleines bisschen um: „Iss einfach weniger als Du verbrauchst, dann nimmst Du ab.“ Ebenfalls ein alter Bekannter – oder? Dieser Satz wirft – aus meiner Sicht – mehr Fragen auf als er beantwortet …

Wieviel verbrauchst Du denn so? 

Würdest Du das online ausrechnen? Oder mit ’ner App? Hast Du eine schlaue Uhr oder Waage? Hast Du eine Tabelle in einem Buch?

Mein Auto verbraucht im Stadtverkehr 7,3 Liter auf 100 km und außerorts 4,8. Dasselbe Auto, dieselbe Fahrerin, völlig verschiedener Verbrauch bei verschiedenen Anforderungen. Ein anderes Auto, genauso groß, genauso schwer, genauso alt verbraucht innerorts vielleicht 8,2 und außerorts 5,3 Liter.

Ein Auto ist eine Maschine. Da ist Treibstoff einfach nur Treibstoff. Der wird komplett zu Energie verstoffwechselt. Das ist einigermaßen gut berechenbar und selbst hier gibt es zum Verbrauch nur ungefähre Durchschnittswerte, die sich von Modell zu Modell auch noch stark unterscheiden.

Die Werte vom Online-Rechner, auf Deiner Uhr, in Deiner App, aus der Tabelle in dem Buch oder auf Deiner smarten Waage sind ebenfalls ungefähre Durchschnittswerte. Allerdings bist Du keine Maschine. Dein Treibstoff wird nicht bloß zu Energie verstoffwechselt.

Und Du bist nicht Durchschnittlich. 

Du bist einzigartig. 

Woher soll eine Formel Deinen Verbrauch kennen? 

Dein Verbrauch ist kein feststehender Wert. Wie bei meinem Auto: Unterschiedliche Anforderungen, unterschiedlicher Verbrauch.

Jahrzehntelang hat sich die Ennährungswissenschaft überhaupt nicht darum gekümmert, ob unser Verbrauch sich verändert oder nicht. Es galt einfach die Annahme, unser Verbrauch wäre immer derselbe. So wie in „Nur mal angenommen, der Verbrauch wäre konstant …“ Und dann wurde diese Annahme nie überprüft. Stattdessen wurden, basierend auf dieser Annahme, Hypothesen und Formeln entwickelt, auf deren Basis wiederum die Ernährungsstudien der letzten Jahrzehnte durchgeführt wurden. So wie in „Wir wissen ja, der Verbrauch ist konstant.“

Langsam komme ich drauf, wieso das Ernährungswissen der letzten 100 Jahre gerade völlig in sich zusammenfällt (und bin etwas entsetzt, wieso jetzt erst). Es gibt zwar noch einige weitere Gründe dafür, aber eine wahnsinnig wackelige Basis ist auf jeden Fall ein ziemlich einleuchtender Grund.

Und nochmal: Woher soll irgendeine Formel wissen, was Du heute verbraucht hast? Oder am Dienstag? Oder als Du Grippe hattest oder wenn Du fröhlich bist oder getanzt oder schlecht geschlafen hast?

Ignorieren wir mal gerade alles, was ich bis hier geschrieben habe und nehmen wir an, Du möchtest abnehmen. Du suchst Dir eine App oder einen Onlinerechner oder irgendwas und gibst da Deine Werte ein. Das spuckt Dir dann irgendwelche Zahlen aus. Soundsoviel ist Dein Grundbedarf, soundsoviel ist Dein Gesamtbedarf. 

Von der Zahl für den Gesamtbedarf ziehst Du jetzt irgendwas ab – meist liegt das so im 500-Kcal-Bereich –, denn Du willst im Defizit sein, schließlich willst Du abnehmen. 

Jetzt kaufst Du ein, liest Dir artig die Nährwertangaben auf den Schachteln und Bechern durch, rechnest und nimmst Dir für morgen erstaunlich wenig mit nach Hause, denn das Defizit muss ja eingehalten werden.

Ich fasse das nochmal kurz zusammen: Du nimmst irgendeine aus der Luft gegriffene Durchschnittszahl, ziehst davon irgendeine andere aus der Luft gegriffene Zahl ab und kaufst Lebensmittel, auf deren Nährwertetiketten irgendwelche Durchschnittszahlen stehen, die zusammengerechnet dann weniger ergeben müssen als Du ausgerechnet hast.

Also ich hab da leise Zweifel an dieser Methode.

Spulen wir mal zurück zum Tag vor der Entscheidung, jetzt in echt abzunehmen und endlich auch mal dranzubleiben:

Der Tag vorm Abnehmen

Zum Frühstück gibt’s zwei halbe Brötchen mit Halbfettmargarine. Eins mit Hähnchenbrust, eins mit Nutella, dazu einen Becher Milchkaffee.

Auf dem Weg zur Arbeit wird ein Schinken-Käse-Croissant mitgenommen, das Frühstück war ja doch am Ende bisschen süß. Am Arbeitsplatz angekommen gibt’s dazu einen schönen Milchkaffee, für den gutgelaunten Start in den Arbeitstag.

Heute ist Mittwoch, das heißt Currywurst-Tag in der Kantine!!! Früh anstellen! Currywurst mit Pommes, Cola und ein kleiner Schokopudding für den Nachtischmagen.

Nach dem Futterkoma gegen 15:30, 16:00, fragt der kleine Hunger nochmal nach und wird mit einem Milchkaffee und drei Prinzenrollenkeksen für seine Aufmerksamkeit belohnt.

Es ist noch Serie übrig, der Abend ist gerettet! Dazu gibt’s mal eine schöne Pizza ins Haus. Lecker! „Sag mal, hatten wir nicht irgendwo noch Erdnussflips oder Karamellpopcorn?“

Ist das überzeichnet? Keine Ahnung. Ich kucke anderen Menschen im Supermarkt oft in den Wagen und sehe als Bahnpendlerin seit Jahren, was die Leute aus Bahnhöfen so alles mitnehmen, aber natürlich kann ich daraus keinen Durchschnittstag ableiten. 

Also: Wir befinden uns hier auf dem sehr, sehr dünnen Eis jenseits aller Wissenschaft. Diesen Tag habe ich mir einfach ausgedacht. Er ist angelehnt an viele Tage, die ich selbst vor dem Abnehmen so ähnlich erlebt habe. 

4000 Kalorien? Nicht Dein Ernst.

Und weiter im Text: Der Tag vor der Entscheidung, jetzt in echt abzunehmen und so weiter, hatte so um und bei 4000 Kcal. Ich musste zum dramatisieren nichtmal schummeln, habe fettarme Milch in die Milchkaffees gepackt und mit Cola Light gerechnet. 

Jetzt kommt der nächste Tag, Du entscheidest Dich, abzunehmen und berechnest Deine Werte. Mal sehen … weiblich, 58 Jahre, 184 cm, 88 Kilo (das sind natürlich meine Werte, nicht Deine), macht 1582 Kcal Grundumsatz + 448 Kcal Leistungsumsatz macht, äh, 2031 Kcal Gesamtumsatz. Davon 500 Kcal abziehen, dann sind wir ungefähr wieder beim Grundumsatz. 1531, na, sagen wir 1500 Kcal werden also ab sofort gegessen. Alles in dem Bewusstsein 500 Kcal im Minus zu essen, um damit in jeder Woche 3500 Kilokalorien Körprfett abzubauen, macht dann künftig ein Pfund weniger jede Woche. 

Wart mal. Woher kommt denn diese Zahl?

„Ich weiß, dass 3500 Kcal ein Pfund Körperfett sind, aber woher?“ Diese Frage stellte sich Dr. Zoe Harcombe 2009, während sie für ihr Buch recherchierte: „The Obesity Epidemic: What caused it? How can we stop it?“. Diese Zahl wurde überall genannt aber eine Quellenangabe dazu gab es nirgends. Daraufhin stellte sie die Frage allen, die in ihren Publikationen erwähnten, dass ein Pfund Körperfett 3500 Kcal hat. Die Adressaten waren die British Dietetic Association (BDA), Dietitians in Obesity Management (DOM), der National Health Service (NHS), das National Institute for Clinical Excellence (NICE), das Britische Gesundheitsministerium (DoH), das National Obesity Forum (NOF) und die Association for the Study of Obesity (ASO). Alles echte Schwergewichte in Fragen gesunder Ernährung. Aber niemand hatte eine Antwort. Und manchen war das nichtmal peinlich. Es kam heraus, dass sie im Kreis abgeschrieben hatten und Dr. Harcombe hat die Zahl inzwischen bis zum Jahr 1918 zurückverfolgt, ruft aber immernoch auf ihrer Website auf, man möge sich bitte melden, wenn man den Ursprung dieser vermutlich auch wieder völlig aus der Luft gegriffenen Zahl kennt, denn die Quelle von 1918 nannte auch keine Berechnungsgrundlage.

Das nur am Rande. Die wichtige Info hier lautet: „aus der Luft gegriffen“.

Und wieder weiter im Text: Wir waren bei 1500 Kcal. Und dem Wissen, damit ein Defizit von 500 Kcal zu erreichen und damit dann ein Pfund pro Woche abzunehmen. Am Tag vorher waren es aber 4000 Kcal. Gesamtumsatz war 2031, das macht ein Plus von 1969 Kcal am Tag. 

In einer Woche sind das 13.783 Kcal. 

Bevor Du jetzt also pro Woche ein Pfund abnehmen möchtest, mit Deinem 500 Kilokalorien-Defizit, erklär mir bitte mal, wieso Du vorher nicht jede Woche 2 Kilo zugenommen hast. Also, ja, Du hast zugenommen, in den vergangenen Jahren. Aber 2 Kilo pro Woche? Das wären 104 Kilo in einem einzigen Jahr.

„Iss weniger als Du verbrauchst“ klingt einfach, und ist einfach falsch. Das ist schon deshalb nicht durchführbar, weil wir überhaupt keine konkreten Zahlen haben und einfach so im Alltag auch keine konkreten Zahlen bekommen können. Wir müssen an dieser Stelle wirklich mal fragen, ob Mathe ein Werkzeug ist, das uns beim Abnehmen helfen kann. 

Doch das ist ein Thema für einen anderen Tag. Im nächsten Artikel gehe ich erstmal etwas detailierter die fünf Punkte der Startphase durch, denn damit hast Du Dich dann vielleicht ja schon ein bisschen vertraut gemacht. Eventuell sind dabei ja auch schon Fragen aufgetaucht, die sich mit etwas mehr Hintergrund schnell beantworten lassen.

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